Dr. Chrystina Häuber, Universität Tübingen
4. Vorlesungssitzung
Di, 18. Mai 2010
Sehr geehrte Damen und Herren,
willkommen zur 4. Vorlesungssitzung !
Es tut mir sehr leid, dass die Vorlesung wegen meiner Erkrankung die beiden letzten Dienstage hat ausfallen müssen, ich bitte Sie diesbezüglich um Ihr Verständnis.
Am Anfang möchte ich wieder kommentieren, worauf mich einige von Ihnen nach der letzten Vorlesungssitzung hingewiesen haben. Es betrifft diejenigen unter Ihnen, die den Bachelor-Studiengang gewählt haben, und im Besonderen das Ihnen abverlangte Arbeitspensum, sowie meine eigenen Überlegungen, wie ich Sie bei der Ableistung dieses Pensums durch `flankierende Maßnahmen´ zum Zeitmanagement unterstützen kann.
Auf meine Frage, die ich am Anfang einer der letzten Vorlesungsstunden gestellt hatte, wer von Ihnen sehr gut Italienisch kann, gab es nur eine einzige Wortmeldung. Ich möchte deshalb heute zunächst einmal fragen, wer von den Studierenden des Bachelorstudiengangs das Große Latinum hat, und wer das Graecum [für beides erstaunlich viele Wortmeldungen].
Bei der Konzeption meiner `flankierenden Maßnahmen´, mit denen ich Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen möchte, bin ich davon ausgegangen, dass die meisten von Ihnen weder Latein- Griechisch-, noch Italienischkenntnisse besitzen, weshalb ich Ihnen als Arbeitsinstrument für jede Vorlesungssitzung ein Blatt austeile, auf dem die in dieser Stunde neu eingeführten Fachtermini, antiken Ortsnamen und antiken Personennamen erscheinen. Diese sind absichtlich nicht alphabetisch geordnet, sondern in der Reihenfolge ihres Vorkommens. Da diese Liste laufend ergänzt wird, finden Sie in unserem Vorlesungsordner immer die letzte Fassung - ich habe auch leider feststellen müssen, dass mir in früheren Fassungen einige Fehler unterlaufen sind, die ich inzwischen korrigiert habe. Wenn Sie sich die alten Fassungen gemerkt haben, macht das nichts, denn ich weiß ja noch, was ich zuerst geschrieben hatte. Wenn Sie sich aber diese Listen für die Zukunft aufbewahren wollen, um gegebenenfalls später darauf zurückzugreifen, rate ich Ihnen, dass Sie sich am Ende der Vorlesung die allerletzten Fassungen aller meiner Listen kopieren - dann sind zumindest jene Fehler behoben, die ich selbst gefunden habe. Wenn Sie Fehler finden sollten, wäre ich Ihnen natürlich für entsprechende Hinweise sehr dankbar.
Der Lehrveranstaltungstyp Vorlesung, den Sie bei mir absolvieren, wird allgemein wie folgt verstanden: auf der Basis entsprechender wissenschaftlicher Fachliteratur wird von dem Dozenten, der die Vorlesung hält, ein Thema behandelt. Die Literatur wird den Studierenden mitgeteilt, und die Studierenden vertiefen anhand der angegebenen Literatur im Selbststudium das während der Vorlesung Gehörte und Mitgeschriebene in der Bibliothek. Ohne diese Anstrengungen Ihrerseits ist es unmöglich, dass Sie sich alles merken können, was ich Ihnen vorgetragen habe - es sei denn Sie hätten entweder bereits selbst einen Überblick über das entsprechende Fachwissen, oder alternativ ein überdurchschnittlich gutes Gedächtnis. Es ist im Übrigen so, dass die Bemessung der Leistungspunkte, welche Sie für die erfolgreiche Ableistung dieser Vorlesung erhalten werden, auf einer ganz bestimmten Anzahl von Arbeitsstunden basiert. Für diese Vorlesung erhalten Sie 4 Punkte, und zwar deshalb, weil der kalkulierte Arbeitsaufwand, den Sie benötigen um diese Vorlesung zu hören und nachzuarbeiten, insgesamt 120 Arbeitsstunden beträgt.
Man kann sich natürlich darüber streiten, ob der notwendige Arbeitsaufwand korrekt kalkuliert worden ist, zumal Ihre Vorkenntnisse mit Sicherheit stark differieren. Doch unabhängig davon, ob die Größe des Ihnen zugemessenen Pensums berechtigt oder überhaupt praktikabel erscheint - falls man nämlich Ihren kompletten Stundenplan berücksichtigt - ändert dies nichts an der Tatsache, dass Ihnen grundsätzlich für diese Vorlesung ein bestimmtes Arbeitspensum abverlangt wird. Wobei vorausgesetzt wird, dass Sie die Ableistung dieses Arbeitspensum in die Lage versetzen wird, die mündliche Prüfung erfolgreich zu absolvieren.
Die zu Grunde liegende `Philosophie´ ist also tatsächlich die, dass Sie sich anhand von Vorlesungen wie dieser einen Teilbereich der Klassischen Archäologie selbst erarbeiten müssen - schließlich handelt es sich ja um eine Überblicksvorlesung - ohne Arbeit Ihrerseits also keine Punkte. Dahinter steht ein Sinn, der, wenn Sie sich einmal fragen, wozu Sie dieses Studium befähigen soll, unmittelbar einleuchtet: in jeder denkbaren beruflichen Anstellung unser Faches wird von Ihnen sehr viel Wissen verlangt, das Sie sofort abrufen können müssen, weil zum gemütlichen Recherchieren in einer Bibliothek oder im Internet im Ernstfall in vielen Fällen gar keine Zeit bleibt. Das werden Sie mir bestätigen können, sobald Sie selbst im Beruf stehen. Da Sie alle das Abitur oder andere, dem Abitur entsprechende Prüfungen geschafft haben, und womöglich zusätzlich über Expertenwissen aus weiteren Bereichen, wie z. B. Sport, Musik, Theater oder Belletristik verfügen, glaube ich, Ihnen nicht erklären zu müssen, wie es sich anfühlt, wenn man selbst zu einem Sachverhalt Expertenwissen besitzt, oder im gegenteiligen Fall, wie es sich anfühlt, wenn das Wissen so dürftig ist, dass man mit Ach und Krach einen Test besteht. Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt, oder: ohne Fleiß kein Preis, so lauten Sprichworte. Erfolg merkt man auch selbst, wie Sie sicher ebenfalls wissen. Im Studium bemerken Sie es wie zu Schulzeiten an Ihren Noten und spätestens dann, wenn ein Dozent Sie fragt, ob Sie nicht Lust hätten als Studentische Hilfskraft tätig zu werden. Ergänzend kann ich Ihnen dazu aus eigener Erfahrung sagen, dass Erfolg machbar ist und obendrein Spaß macht, und dass es dann richtig Spaß macht weiter zu arbeiten. Und Spaß am Studium und an der Arbeit wünsche ich Ihnen allen !
Da Sie sich für das Fach Klassische Archäologie entschieden haben, ist es zudem selbstverständlich, dass ein großer Teil der aktuellen Forschung in jenen Sprachen publiziert wird, die heute in den Ländern rund um das Mittelmeer gesprochen werden. In der Antike hätten wir es alle diesbezüglich besser gehabt, damals hätten wir uns im gesamten Römischen Weltreich mit Latein und Griechisch durchschlagen können, heute gibt es innerhalb des Areals des ehemaligen Römischen Weltreichs bekanntlich insgesamt wesentlich mehr Amtssprachen.
Ich fertige die Listen, die ich im Ordner zu unserer Vorlesung abhefte, mit dem Ziel an, Ihnen Zeit zu ersparen. Machen Sie es einfach so, wie ich es einem von Ihnen auf seine Frage nach der letzten Vorlesungssitzung geraten habe, der kein Italienisch kann: schreiben Sie nach Gehör mit und schauen Sie nach der Vorlesung auf die Liste der Fachtermini, antiken Orte und antiken Personennamen. Er hat mir Recht gegeben, da er die Begriffe, deren Schreibweise er nicht kannte, problemlos in dieser Liste gefunden hat. Außerdem zeigt Ihnen das Blatt der Fachtermini zu einer Vorlesungsstunde in knappestmöglichem Überblick, worum es in dieser Stunde gegangen ist - und zwar deshalb, weil ich diese Begriffe nicht alphabetisch geordnet habe, sondern in der Reihenfolge ihres Vorkommens.
Natürlich nenne ich auch zahlreiche moderne Namen, und zwar die von Wissnschaftlern, deren Forschungsmeinungen ich versuche, Ihnen in dieser Vorlesung zu vermitteln. Diese Namen finden Sie in der Literaturliste. Es handelt sich um Deutsche, Österreicher, Italiener, Engländer, Amerikaner und Franzosen.
In den 120 Arbeitsstunden, die für diese Vorlesung als Arbeitsaufwand für Sie kalkuliert wurden, sind die Vorlesungsstunden, in denen Sie mir zuhören, bereits enthalten. Wenn Ihnen z. B. keiner der Begriffe und Namen, die ich nenne, unbekannt ist, was ja bedeuten würde, dass Sie meine Ausführungen komplett verstehen, und wenn Sie obendrein ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis haben, müssten Sie die Prüfung am Ende der Vorlesung ohne große Vorbereitung gut schaffen können. Voraussetzung hierfür wäre allerdings, dass Sie zugehört und mitgeschrieben haben, dass Sie Ihre eigenen Mitschriften lesen können, und dass Sie sich Ihre Mitschriften vor der Prüfung noch einmal sorgfältig durchlesen. Das Verstehen der Begriffe allein reicht natürlich nicht aus, denn meine Aufgabe besteht ja darin, Ihnen in dieser Vorlesung Zusammenhänge aufzuzeigen. Doch um meiner Argumentation überhaupt folgen zu können, brauchen Sie eben dieses Grundwissen.
Falls Sie Probleme mit Ihren eigenen Mitschriften haben sollten - das ist z. B. etwas, was mir häufig passiert, wenn ich mir zu Vorträgen, die ich mir anhöre, Notizen mache - dann rate ich Ihnen, sich die Mitschriften schon gleich nach der entsprechenden Vorlesungssitzung durchzulesen, dann ist die Erinnerung noch frisch und Sie können Ihren Text noch entsprechend ausbessern bzw. mit Kommentaren versehen.
Für diejenigen unter Ihnen, die kein hervorragendes visuelles Gedächtnis besitzen, fertige ich die Liste der Dias an, die ich Ihnen zeige. Mit dieser Liste können Sie spielend in der restlichen Zeit - 120 Arbeitsstunden minus den gehaltenen Vorlesungsstunden - die Abbildungen der relativ wenigen Denkmäler, die ich Ihnen zeige, aus der angegebenen Literatur in unserer Bibliothek heraussuchen. Wenn Sie sich einmal die Mühe machen, meine Dialisten anzuschauen, werden Sie bemerken, dass schon alles Wissenswerte zu den behandelten Denkmälern in dieser Dialiste steht. Anschauen müssen Sie sich die Bilder in der Literatur jedoch selbst, und genau dafür sind die insgesamt 120 Arbeitsstunden minus den Vorlesungsstunden anberaumt worden !
Ich weiss nicht, wie gut Sie selbst Ihr visuelles Gedächtnis einschätzen - mir ist nur aufgefallen, dass ich normalerweise sehr wenige von Ihnen in unserer Bibliothek arbeiten sehe, demnach gehen offensichtlich die meisten von Ihnen davon aus, ein ausgezeichnetes visuelles Gedächtnis zu besitzen.
Nun also zum Thema unserer aktuellen Vorlesungssitzung.
2. Dia - Wiederholung
F. SCAGNETTI und G. GRANDE 1979: Romkarte
- Kartenausschnitt: "VRBS ANTIQVISSIMA", mit der Servianischen Stadtmauer
Beginnen möchte ich heute mit einer Zwischenbilanz. Was haben wir bisher über die Stadt Rom gehört ? Wir haben den Ausgangspunkt der römischen Republik angeschaut und festgestellt, dass die Römer, ehe ihre Republik einsetzt, von etruskischen Königen regiert worden waren, dem Herrscherhaus der Tarquinier, sowie dass der Gründer dieser Dynastie, Demaratos, ursprünglich aus Korinth kam. Die antiken Schriftquellen schreiben diesem Demaratos zu, dafür gesorgt zu haben, dass die Kultur Mittelitaliens auf Grund seines Wirkens stark griechisch beeinflusst worden sei, und wir haben gesehen, dass dies durch die Ergebnisse der modernen Archäologie voll und ganz bestätigt worden ist. Wir haben ferner gehört, dass es umstritten ist, ob Rom zu dieser Zeit eine etruskische Stadt gewesen sei oder nicht. Und zur Beantwortung dieser Frage hatte ich Ihnen eine Karte gezeigt, auf der die Sprachen verzeichnet sind, die damals auf der italischen Halbinsel, das heißt, im heutigen Italien gesprochen worden sind. Demnach wurde in Rom Latein gesprochen, desgleichen in Latium, einem Gebiet zu dem Rom gehört, wobei sich der Name der lateinischen Sprache von dem in Latium lebenden Volk der Latini ableitet.
Wenn Rom demnach eine Stadt in Latium ist, ist es dann eine Stadt der Latiner ? Nach einem Teil der antiken Tradition ist dies der Fall und auch einige moderne Historiker sehen dies so, wobei das spätere Stadtgebiet Roms zum Teil auch von Sabinern besiedelt gewesen sein soll. Wir werden im Laufe der Vorlesung noch hören, dass Rom nach der Auffassung anderer antiker Autoren weder eine etruskische, noch eine latinische Stadt, sondern selbstverständlich eine griechische Stadt gewesen sei !107 Wobei bei der letzteren Behauptung interessanterweise auch mit der Sprache argumentiert worden ist, welche die Einheimischen in Rom gesprochen hätten108.
Da diese Aussagen der antiken Autoren sich gegenseitig ausschließen und Althistoriker, die sich ja hauptsächlich mit antiken Schriftquellen und Schriftzeugnissen - also Inschriften - beschäftigen, diesbezüglich allein nicht weiterkommen, ist unser Fach, die Klassische Archäologie, geradezu prädestiniert, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Mir selbst geht es bei meiner Zusammenfassung dieses Streits darum, Sie darauf hinzuweisen, mit welchem methodischen Ansatz und anhand welcher archäologischer Denkmäler wir als Klassische Archäologen kompetent an dieser Diskussion teilnehmen können.
Das Besondere der Stadt Rom, nämlich, dass sich das Stadtgebiet noch an derselben Stelle befindet wie in der Antike, macht heute einerseits den unvergleichlichen Reiz dieser Weltstadt aus - die sie ja wieder ist - gleichzeitig hat diese Tatsache zur Folge, dass die antiken Architekturen in Rom und ihre Ausstattung, mit denen wir uns nun in den verbleibenden Sitzungen der Vorlesung beschäftigen wollen, entsprechend stark zerstört sind. Dabei gilt die nicht immer korrekte Faustregel: je älter die antike Architektur in Rom, desto weniger ist noch von ihr vorhanden. Dass die Römer ihre Stadt aber überhaupt in der Antike zu diesem einzigartigen, von antiken Autoren hochgelobten Stadtgebilde ausbauen konnten, liegt natürlich an ihren Eroberungen, von denen im Detail also noch zu handeln sein wird. Ich habe aber ganz bewußt nicht damit begonnen, Ihnen alle diese Kriege und deren Ergebnisse aufzuzählen, sondern habe Ihnen statt dessen zunächst einmal etwas über die römische Familie berichtet, weil dies nach der Vorstellung der Römer selbst die stabile Grundlage ihrer erfolgreichen politischen und militärischen Aktivitäten gewesen ist. Dabei habe ich die Rolle und die Aufgaben der Frauen innerhalb dieser Familien besonders hervorgehoben, die ansonsten zumeist völlig vergessen werden, da die herausragenden Leistungen der Römer natürlich alle von Männern erbracht worden zu sein scheinen. Scheinen, wie gesagt. Die Architekturen Roms und deren Ausstattung des uns hier interessierenden Zeitraums, welche sich auf das Thema Ehe und Familie beziehen, sind leider komplett zerstört. Deshalb war, wie ich Ihnen in der letzten Stunde kurz mitgeteilt hatte, die Begeisterung der Fachwelt entsprechend groß, als man im nahegelegenen Lavinium republikanische Funde dieser Art entdeckt hat.
3. Dia - Wiederholung
Karte: DNP 6 (Stuttgart 1999) 1167-1168, Latinische Städtebünde (bis zum 4. Jh. v. Chr.)
Ich zeige Ihnen nochmals diese Karte von Latium mit dem 27 km von Rom entfernten Ort Lavinium. Wir erfahren aus Schriftquellen, dass hier, in dieser Stadt, die der Trojaner Aeneas gegründet, und nach seiner Ehefrau Lavinia benannt haben soll, eine Athena Ilias/ Troiana verehrt wurde, also eine Göttin, die Aeneas nach der Vorstellung antiker Schriftquellen aus Troia mitgebracht hatte. Diese in Lavinium verehrte Athena Ilias war, wie wir ebenfalls aus Schriftquellen erfahren, für die Initiation von Knaben und Mädchen zuständig. Diesen bedeutenden Aspekt der Göttin Minerva, wie Athena bei den Römern heißt, hatte ich Ihnen ja bereits im Zusammenhang der drei Darstellungen von Frauen erläutert, welche damit beschäftigt sind Wolle zu spinnen, die wir uns in den letzten Stunden angesehen haben. Glücklicherweise besitzen wir zahlreiche antike Schriftquellen zu Rom und Lavinium, die uns eine enge Verbindung beider Städte bereits im 6. Jh. v. Chr. und für die Folgezeit schildern, weshalb es methodisch zulässig ist, folgende gedankliche Operationen durchzuführen, die man ansonsten säuberlich voneinander trennen sollte.
4. Dia - WIEDERHOLUNG
Tonstatue der Athena / Minerva
Lavinium, "Santuario extraurbano"
CARANDINI, CAPELLI 2000, Dat.: 6.-3. Jh. v. Chr., H: 2 m
Hier erscheint noch einmal die 2 m große Tonstatue der Minerva aus Lavinium, welche sicher zu Recht dem dort befindlichen Heiligtum der Athena Ilias/ Troiana zugeschrieben wird, obwohl ihre Ikonographie, welche die einer Athena Promachos mit einmaligen `Zutaten´ ist, zunächst keinerlei Hinweise darauf zu enthalten scheint, dass in ihrem Heiligtum Initiationsriten stattfanden. Auf die Ikonographie der Statue gehe ich später noch einmal ein. Bei der eben angekündigten gedanklichen Operation handelt es sich um Folgendes.
5. Dia - WIEDERHOLUNG
Lavinium: Tonstatuen der Minerva und von allen hier gezeigten Votivstatuen
1.) Wir besitzen in Lavinium die bereits erwähnten archäologischen Befunde und Funde. Es handelt sich um ein Areal außerhalb der antiken Stadt, wo im 3. Jh. v. Chr. eine natürliche Bodensenke mit Hilfe von ca. 100 zum Teil lebensgroßen Votivstatuen aus Ton planiert worden ist, welche in den Zeitraum 6.-3. Jh. v. Chr. datiert werden, das heißt, es handelt sich um Weihegaben, die ursprünglich innerhalb dieses langen Zeitraums in einem Heiligtum aufgestellt gewesen waren. Entdeckt wurden diese Funde bereits im Jahre 1960, wie viele andere dieser Zeit auf Grund der Tatsache, dass damals tiefer in den Boden eingreifende Pflugscharen entwickelt wurden und überall in Italien eingesetzt worden sind, was einen `Boom´ an archäologischen Bodenfunden ausgelöst hat. Die wissenschaftlichen Ausgrabungen dieser Zufallsentdeckung in Lavinium konnten jedoch erst im Jahre 1977 einsetzen109. Bereits im Jahre 1981 war dann die berühmt gewordene Ausstellung "Enea nel Lazio" (`Aeneas in Latium´) im Konservatorenpalast in Rom zu sehen, der zu den Kapitolinischen Museen gehört, in welcher diese Funde zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert worden sind. Neuerdings können Sie sich diese Tonplastiken im Museo Archeologico Lavinium in der Stadt Pratica di Mare anschauen, wie die Stadt Lavinium/ Lavinio heute heißt.
Leider handelte es sich bei diesen Funden um bereits in der Antike aus einem Heiligtum abgeräumtes Material. Das heißt, diese Plastiken waren in dieser Bodensenke allesamt bei derselben Gelegenheit `entsorgt´ worden, weshalb eine exakte Datierung der einzelnen Statuen auf Grund der Grabungsergebnisse nicht zu erwarten war. Doch da es sich um Votivgaben handelt - und das sollten Sie sich unbedingt merken - kann man in diesem Fall wie grundsätzlich in allen vergleichbaren Fällen davon ausgehen, dass das Areal, wo diese Funde zu Tage kamen, zu dem Heiligtum gehört haben muss, in das diese Statuen ursprünglich geweiht worden waren. Hierbei handelte es sich offenbar um eine rechtsbindende Vorschrift, die bei den Römern so weit ging, dass auch sämtliches Baumaterial, das jemals in ein Heiligtum gebracht worden war um dort verbaut zu werden, gleichfalls dem Gott des Heiligtums gehörte und daher, falls eine Architektur z. B. durch Blitzschlag beschädigt wurde, die Überreste dieses Baus an Ort und Stelle bestattet werden mussten - Ausnahmen von dieser Regel waren in jedem Einzelfall genehmigungspflichtig. Dies erklärt, warum wir am Standort eines römischen Heiligtums sehr häufig Architekturteile aller früheren Phasen der dort errichteten Architekturen ausgraben können - was uns heutigen Archäologen natürlich sehr willkommen ist.
Praktisch müssen Sie sich das so vorstellen, dass alle Tonstatuen aus dieser Planierschicht - z. B. auch die hier sichtbaren - bereits in der Antike beschädigt gewesen waren, weshalb sie auf die genannte Weise innerhalb des Heiligtums bestattet worden sind. Der wirkliche Grund für diese Bestattungen ist unklar, doch alle antiken Völker glaubten, dass nicht nur jenen Statuen, die Gottheiten darstellten, von diesen gleichsam `beseelt´ waren, sondern dass dies analog auch für die Portraits von Mensch galt. Man kann deshalb fragen, ob die starke Zerstörung derartiger Statuen womöglich als ihr Tod aufgefasst wurde. Andererseits erfahren wir häufig in antiken Schriftquellen, dass sich römische Adelsfamilien um den guten Zustand von Portraitstatuen ihrer Vorfahren kümmerten, welche im öffentlichen Raum standen. Dies galt auch für andere öffentlich aufgestellte Denkmäler und Gebäude aller Art, die von Familienmitgliedern errichtet worden waren - schließlich gab es ja keine staatliche Denkmalpflegebehörde bei den Römern. Wenn nun nach einigen Jahrhunderten eine Familie erloschen war, ist demnach gut vorstellbar, dass niemand mehr Einwände machen konnte, falls eine Priesterschaft sich entschloß, schadhafte Weihgeschenke einer solchen Familie in ihrem Heiligtum zu entfernen.
Den Ausgräbern dieser Statuen in Lavinium wäre es natürlich lieber gewesen, sie hätten diese Plastiken in ihrer ursprünglichen Aufstelllung angetroffen, das heißt in situ, wie man das nennt, was allerdings noch seltener ist als dieser an sich schon enorme Glücksfall, überhaupt so viele bedeutende, allerdings bereits in der Antike `entsorgte´ Votivstatuen gefunden zu haben.
6. Dia - WIEDERHOLUNG, Lavinium: Tonstatue der Minerva
Was der Grund für die Anlage dieses sehr großen Votivdepots war, wissen wir nicht, weil weder antike Schriftquellen, noch eine mitgefundene Inschrift Auskunft darüber geben. Die Tatsache, dass aus diesem Fund mehrere Tonstatuen der Minerva stammen und die besondere Ikonographie der hier gezeigten Statue haben die Ausgräber aber berechtigterweise zu dem Schluss geführt, dass diese Weihegaben zum Heiligtum der Athena Ilias/ Troiana in Lavinium gehört haben müssen. Vom Heiligtum selbst hat man bislang jedoch leider noch keine Architekturreste entdecken können, weshalb ich Ihnen auch keinen Plan dieser Anlage zeigen kann. Wie gesagt, erwähnen die auf Lavinium bezogenen antiken Schriftquellen zwar, dass im dort befindlichen Heiligtum der Athena Ilias/ Troiana Initiationsriten für Knaben und Mädchen durchgeführt worden sind, doch wie diese im Einzelnen vollzogen wurden, erfahren wir in antiken, explizit auf Lavinium bezogenen Schriftquellen nicht. Dies bedeutet, dass wir es hier zwar mit einem überaus reichen Depot von Votivstatuen zu tun haben, für deren Ikonographie wir jedoch zunächst einmal keine Erklärungsmöglichkeiten besitzen.
2.) In Rom ist die Situation genau umgekehrt: hier besitzen wir für den Zeitraum der Republik sehr detaillierte Schriftquellen zu Initiationsriten von Knaben und Mädchen, aber keinerlei gleichzeitige archäologischen Befunde oder Funde. Wie ich Ihnen in der letzten Stunde mitgeteilt habe, hatte in Rom die Initiation für die Knaben die Konsequenz, in die Welt der erwachsenen Bürger aufgenommen zu werden, während Mädchen gleichzeitig anlässlich ihrer Initiation verheiratet worden sind.
3.) Auf Grund der nachweisbaren engen politischen und kulturellen Verbindung der Städte Rom und Lavinium ist es nun methodisch zulässig, die einschlägigen Schriftquellen, welche die Initiationsriten in Rom beschreiben, gleichsam mit den Statuen aus Lavinium zu `illustrieren´, was vorher, in Ermangelung entsprechender archäologischer Denkmäler aus Rom selbst völlig unmöglich war. Umgekehrt betrachtet, hat dies für die Statuen in Lavinium den unschätzbaren Vorteil, die dargestellten Ikonographien tatsächlich auch im Detail zu verstehen, was ohne die Schriftquellen aus Rom gleichfalls unmöglich wäre.
Auf Grund der Fundlage, in welcher die hier vor uns stehende Minervastatue aus Lavinium angetroffen wurde, und in Ermangelung fest datierter Vergleichsbeispiele, wissen wir nur, dass diese Plastik innerhalb des Zeitraums 6. - 3. Jh. v. Chr. entstanden sein muss. Ein mögliches Datierungskriterium für Statuen, die dem 6. Jahrhundert v. Chr. entstammen, der sog. Archaik, habe ich Ihnen bereits aufgezeigt anhand der beiden Tonsarkophage aus Cerveteri, die in Form von Klinen gebildet sind, und auf denen in beiden Fällen Ehepaare lagern: das archaische Lächeln der dargestellten Personen. Die hier sichtbare Minervastatue weist dieses Lächeln nicht auf, woraus wir mit Sicherheit schließen können, dass unsere Statue später entstanden ist, die Frage ist natürlich, wann genau.
Eine zweite Besonderheit der Statue besteht darin, dass der Künstler die Göttin mit gleichmäßig belasteten Füßen, das heißt ohne eine Ponderation sowie damit zusammenhängender Hüftverschiebung darstellt. Demnach scheint sie vor der Zeit konzipiert worden zu sein, als die Bildhauer begannen, bei stehenden Statuen zwischen dem sog. Stand- und Spielbein zu unterscheiden - eine Besonderheit, die wir uns gleich noch anschauen werden.
Im Fall dieser Plastik könnte es sich wegen ihrer Größe und bewußt altertümlichen Ikonographie theoretisch um ein Kultbild handeln. Auf Grund des sehr ausgeprägten religiösen Konservatismus der Römer muss man nämlich immer damit rechnen, dass ein noch älteres Kultbild, welches verloren gegangen war, möglichst originalgetreu ersetzt worden ist. In sofern kann diese Statue (theoretisch) wesentlich später entstanden sein als man auf den ersten Blick wegen der genannten Stileigentümlichkeiten, sowie ihrer altertümlichen Ikonographie meinen möchte.
Die Wirkung dieser Statue, wie sie zum ersten Mal in der Ausstellung "Enea nel Lazio" im Konservatorenpalast in Rom zu sehen war, habe ich persönlich als ehrfurchtsgebietend empfunden. Die Ikonographie `Athena Promachos´ dieser Minervastatue erkennt man an der Bewaffnung der Göttin, sowie an der Tatsache, dass sie stehend dargestellt ist. Zur Athena Promachos gehören das ungewöhnliche Schwert in der rechten Hand (normalerweise hält die Athena Promachos eine Lanze), ein attischer Helm (der nicht korrekt wiedergegeben ist) und ein Rundschild, dessen Rand in diesem Fall zusätzlich mit Schlangen, Vierfüßlern und Vögeln besetzt ist. Die Göttin ist mit einem einzigen bodenlangen Gewand bekleidet, das wegen der feinen Fältelung ein Chiton sein wird - wir werden noch sehen, dass die Göttin Athena eigentlich üblicherweise darüber noch den schweren Peplos aus Wolle trägt. Nicht nur auf der Brust, wie zumeist bei späteren Darstellungen, sondern in der Art eines Muskelpanzers, trägt die Göttin über ihrem Chiton eine Aegis, die in diesem Fall bis zu den Hüften reicht. Diese Aegis wird immer mit Schuppen dargestellt, obwohl es sich im Mythos um das Fell jener Ziege handelt, welche den Vater Athenas, Zeus genährt hatte; wobei bei den Römern dem griechischen Zeus der Gott Iuppiter entspricht. In der Mitte der Aegis ist das Haupt der Gorgo Medusa, Gorgoneion befestigt, welches Athena von Perseus zum Geschenk erhielt, der Rand der Aegis ist wie üblich mit zahlreichen Schlangen besetzt. Athena ist ja im griechischen Mythos jene Göttin, die vielen Heroen, so eben auch Perseus, aber auch Herakles und Odysseus, bei ihren zahlreichen Abenteuern hilfreich zur Seite steht.
Im ikonographischen Schema der Athena Promachos erscheint hier die Göttin Minerva deshalb, weil sie die Stadtgöttin von Troia ist, die ihre Bürger schützt. Genau deshalb hatte Aeneas ja auch das Kultbild der Stadtgöttin Athena aus dem brennenden Troia mitgenommen - soweit der Bericht im Mythos, bitte glauben Sie nicht, dass die mythische Gestalt Aeneas womöglich diese Tonstatue, die Sie hier sehen, aus Troia mitgebracht haben könnte.
Im übrigen nutzte die Göttin Athena ihre Waffen ganz genau so wie männliche Krieger im Mythos und im wirklichen Leben, wie Sie in Homers Ilias nachlesen können. In der Ilias beschreibt der griechische Dichter Homer den Troischen Krieg, den Kampf um die Stadt Troia, wobei Homer diese Stadt Ilios (das heißt, die Stadt des Ilos) nennt. Die Bewohner der historischen Stadt Ilion/ Ilium waren der Überzeugung, dass sich ihre Stadt am Standort des von Homer `Ilios´ genannten Troia befinde110. Aus weiteren Sagenzyklen, welche sich mit diesem Krieg beschäftigen, erfahren wir, dass der Trojaner Aeneas sich und seine Familie aus dem brennenden Troia retten kann, und zwar deshalb, weil Aeneas von den Göttern ausersehen ist, die Stadt Rom zu gründen. Für unsere Vorlesung ist dieser Mythos deshalb so wichtig, weil sich später einige römische Adelsfamilien genealogisch auf Nachfahren von Trojanern zurückgeführt haben, was offenbar geeignet war, sie selbst aufzuwerten.
Allen voran die Iulier, deren berühmtester Vertreter während der Republik, Gaius Iulius Caesar, uns noch beschäftigen wird. Diese Familie nannte als Stammvater einen Iulus, der niemand anderes war als der kleine Askanios, der Sohn des Aeneas, den der Vater aus dem brennenden Troja mitgenommen, und nach Lavinium gebracht hatte. Und da Aeneas im Mythos der Sohn des Anchises und der Göttin Aphrodite war, behauptete somit die Familie der Iulier von der Göttin Aphrodite abzustammen.
Aber soweit sind wir noch nicht ganz. In diesem Epos Ilias schildert Homer detailliert, wie die Stadt Troia, die sich nach Ansicht der meisten Forscher an der Stelle des historischen Ilion/ Ilium in der Türkei befand (heute: Hisarlik)111, von Griechen belagert, eingenommen und zerstört wird. Wie im Mythos üblich, greifen die olympischen Götter höchstpersönlich in das Kampfgeschehen vor Troia ein; zu den olympischen Göttern, das heißt jenen Göttern, die nach Vorstellung der Griechen auf dem Berg Olympos in Griechenland lebten, gehören ja Zeus, ihr oberster Gott, und natürlich auch seine Tochter Athena112. Nicht von ungefähr heißt die hier vor uns stehende Athena von Lavinium in antiken Schriftquellen Athena Ilias - womit gesagt ist, dass es sich um die Stadtgöttin der Stadt Ilios/ Troia handelt, deren Kult Aeneas aus seiner Heimatstadt Troia nach Lavinium gebracht haben soll.
Karte, Römisches Weltreich: Troia und Lavinium zeigen
Natürlich schützt nach antiker Vorstellung eine Stadtgöttin alle ihre Bürger, aber eben besonders liebevoll die Kinder ihrer Bürger, woraus verständlich wird, dass diese `bis an die Zähne bewaffnete´ Göttin zuständig ist für die Initiation der neuen Bürger ihrer Stadt Lavinium, nämlich der Knaben und Mädchen, die ja, als zukünftige Bürger, mittels der Initiationsriten in ihrem Heiligtum auf ihre Integration in die Gesellschaft vorbereitet werden.
Das Gorgoneion auf der Aegis ist vielleicht die schrecklichste Waffe der Athena/ Minerva, da im Mythos jeder, der das Gesicht der Gorgo anschaut, versteinert wird. In Wirklichkeit sind es aber weniger die Waffen Athenas als vielmehr ihre Intelligenz, die sie so gefährlich machten. Athena ist ja buchstäblich eine `Kopfgeburt´ ihres Vaters Zeus, des obersten Gottes der Griechen. Dieser war mit Athena schwanger - und zwar im Kopf ! - und ließ sich von seinem Sohn Hephaistos, den die Römer Vulcan nannten, den Kopf spalten, um Athena zur Welt bringen zu können, die auf archaischen griechischen Vasen zwar noch winzig klein, aber bereits vollständig bewaffnet dem Haupt ihres Vaters Zeus entspringt. Derartigen archaischen griechischen Darstellungen der Göttin `Athena Promachos´ ist die Ikonographie unserer hier betrachteten Statue nachgebildet.
Zu den Waffen der Göttin zählt im Fall der hier betrachteten Statue obendrein noch eine dreiköpfige Schlange, die sich um ihren rechten Arm windet. Diese Schlange und der Triton an Minervas linker Seite gehören nicht zum üblichen Schema `Athena Promachos´. Tritone bevölkern das Meer und sind das männliche Äquivalent unserer Meerjungfrauen, die bei den Römern Nereiden heißen. Die Oberkörper von Tritonen und Nereiden haben menschliche Gestalt, während ihr Unterleib als Fisch gestaltet ist. Dieser hier sichtbare Triton hat merkwürdigerweise ganz große runde Ohren, wie ein Teddybär, die es damals natürlich noch gar nicht gab - merken Sie sich das bloß nicht ! Mit dieser einmaligen Ikonographie ist aber wohl der Beiname der griechischen Athena Tritogeneia gemeint, den sie bei Homer hat. Diese Variante des Mythos bezieht sich auf die Landschaft Böotien in Griechenland, und bei dem Triton, auf den dieser Beiname der Göttin anspielt, handelte es sich um das ehemalige Flüßchen Triton, das in den Kopaissee mündete. Dort befand sich das Alalkomeneion, ein bedeutendes Heiligtum der Athena, und man nahm an, dass Athena hier am Flüßchen Triton geboren oder aufgewachsen war113.
Wenn Sie sich für die Ikonographie als Teilgebiet unseres Faches interessieren und ihr diesbezügliches Wissen vertiefen möchten, empfehle ich Ihnen das Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae, kurz LIMC. Da die Beiträge in diesem Lexikon in mehreren Sprachen verfasst worden sind, und viele Autoren ihre Texte so spät geliefert haben, dass sie sich nicht in den Bänden befinden, wo man sie erwarten dürfte, empfiehlt es sich, in die Indexbände des LIMC zu schauen, wenn man etwas nicht auf Anhieb finden sollte. Außerdem schreibt man den Namen der Göttin Athena / Minerva und den anderer antiker Götter und weiterer mythologischer Gestalten in den verschiedenen modernen Sprachen natürlich auch jeweils verschieden, weshalb manchmal die eigene Geduld etwas auf die Probe gestellt wird. Wenn man den entsprechenden Beitrag oder sogar mehrere zu einem Thema, das einen interessiert gefunden hat, wird man mit der Fülle des Gebotenen allerdings auch reich belohnt.
7. Dia - WIEDERHOLUNG
links:
Tonstatue der Athena / Minerva
Lavinium, "Santuario extraurbano"
CARANDINI, CAPELLI 2000, Dat.: 6.-3. Jh. v. Chr., H: 2 m
rechts:
Musei Capitolini. Guida 2006, S. 26,
Kolossale Marmorstatue der Minerva (Kultbild, spätrepublikanisch)
Nüchtern betrachtet, ist der Stil der Minervastatue aus Lavinium ausgesprochen individuell, um nicht zu sagen erfrischend eigenständig und gleichzeitig irgendwie `hinterwäldlerisch´. Wir werden uns in den folgenden Stunden mehrere Marmorstatuen anschauen, die zum Teil kolossalen Maßstabs sind und die entweder von griechischen Bildhauern in römischem Auftrag angefertigt wurden, oder aber nach der Ansicht heutiger Forscher römische Kopien nach verlorenen griechischen Originalen darstellen. Eugenio La Rocca zitiert in seinem Beitrag im Ausstellungskatalog "L'età delle conquista", den Sie im Apparat zur Vorlesung finden, römische Autoren, von denen wir erfahren, dass sich die Römer später ihrer eigenen, zuvor hoch verehrten Götterbilder aus Ton geschämt hätten114. Leider wissen wir nicht, um welche Götterstatuen aus Ton es sich hierbei gehandelt hatte. Ich stelle Ihnen eine derartige spätrepublikanische Marmorstatue der hier links noch einmal sichtbaren Tonstatue der Minerva aus Lavinium gegenüber.
Der Vergleich bietet sich deshalb an, weil die rechts gezeigte Marmorstatue auch ein Bild der Minerva ist, das überdies gleichfalls im ikonographischen Schema der Athena Promachos präsentiert wird. Diese Statue steht in den Kapitolinischen Museen und zwar in jenem Teil, der Musei Capitolini, Palazzo Nuovo heißt. Die Statue ist 3,20 m hoch und gilt damit manchen modernen Forschern bereits als kolossales Bildwerk, obwohl wirkliche Kolossalität dann erreicht ist, wenn eine Statue die mehrfache Lebensgröße eines Menschen erreicht. Die Statue stammt aus Rom ohne dass man ihren Fundort wüsste, wurde jedoch bereits im 16. Jh. gefunden, weshalb sie sich in diesem Teil der Capitolinischen Museen befindet, in welchem alte Funde ausgestellt sind. Die meisten archäologischen Funde sind ja bei ihrer Auffindung mehr oder weniger beschädigt, weshalb man sie früher - und diese Minervastatue ist ein gutes Beispiel dafür - in einer Weise mit Ergänzungen versehen hat, die möglichst so wirken sollten, als seien sie Teile der antiken Statue. Heutzutage werden grundsätzlich sehr viel weniger Ergänzungen an archäologischen Denkmälern vorgenommen, und wenn dies doch geschieht, dann in der Weise, wie Sie es an der Tonplastik der Minerva aus Lavinium sehen, an der man sofort erkennt, welche Teile ergänzt worden sind.
Die Marmorstatue der Minerva rechts im Bild ist mit einem schweren, übergürteten Peplos aus Wolle und einem Schultermantel (haplois) bekleidet. Sie hielt ursprünglich mit der rechten Hand eine Lanze, und mit dem linken Arm ihren Schild, der hier ergänzt ist und im Original wesentlich größer gewesen sein muss. Der Helmbusch ihres korinthischen Helms ist gleichfalls ergänzt und dem Zeitgeschmack des Restaurators entsprechend sehr viel `barocker´ ausgefallen als die entsprechenden Helmbüsche, die wir von antiken Darstellungen kennen.
Diese Marmorstatue wird von verschiedenen Forschern in den Zeitraum zwischen dem 2. Jh. v. Chr. bis zum Ende des 1. Jhs. v. Chr. datiert und einmütig als Kultbild angesehen, dabei könnte sie, was ihre Ikonographie betrifft, innerhalb dieses Zeitraums sowohl für einen Tempel in Griechenland geschaffen worden sein, als auch für einen Tempel in Rom, wie Eugenio La Rocca einmal geschrieben hat115.
Mit diesen beiden Statuen, die hier nebeneinander stehen, lässt sich also sehr deutlich zeigen, welche Entwicklung das Kunstschaffen in Rom während der Republik genommen hat. Es ist auch kein Zufall, dass die rechts im Bild erscheinende Minervastatue sich ganz bewußt an der Athena Parthenos des Phidias in Athen orientiert. Bei dieser Athenastatue, dem Kultbild im Parthenon von Athen, handelte es sich um ein Werk der Hochklassik (das Original entstand 447-438 v. Chr.)116, das uns nur aus römischen Kopien bekannt ist, da das Original ein Goldelfenbeinbild war. Die Römer der späten Republik orientierten sich in der Kunst sehr stark an Griechenland, und mit besonderer Vorliebe am Kunstschaffen der Stadt Athen.
Bei der hier rechts im Dia betrachteten Statue ist das rechte Bein das sog. Standbein und das linke, leicht zur Seite gesetzte Bein das sog. Spielbein, diese, dem natürlichen Stehen eines Menschen nachbildende Bewegung der Beine hat auch für die Gestaltung des Oberkörpers der Statue sowie für ihre Arme entsprechende, und zwar `gegenläufige´ Bewegungen zur Folge. Auch das Gewänder werden der Bewegung des Körpers angepasst. In der griechischen Klassik der Mitte des 5. Jhs. v. Chr. war dieses differenziert bewegte Stehen von Statuen zur Vollendung gebracht worden und dies hat die nachfolgenden Kunstepochen der westlichen Welt bis zur unmittelbaren Gegenwart nachhaltigst geprägt.
Der Wunsch, die von den Griechen entwickelte chryselephantine Technik, das heißt, die elfenbeinernen und goldenen Teile einer Goldelfenbeinstatue wie der Athena Parthenos des Phidias zu imitieren, geht bei unserer Statue so weit, dass die Augen wie aus andersfarbigem Material eingelegt wirken und das Gewand, welches aus Gold zu denken ist, tatsächlich metallisch wirkt. Die sichtbaren Körperteile, Gesicht und Hals, Arme, Hände und Füße müssen Sie sich bei Goldelfenbeinbildern aus Elfenbein gefertigt denken - Grundlage hierfür war ein Verfahren, das es ermöglichte aus Elefantenzähnen/ Elfenbein die entsprechenden Körperteile herzustellen. Immerhin war die Athenastatue des Phidias mit mehr als 12 m Höhe ja ein wirklich kolossales Bildwerk. Eugenio La Rocca117 datiert diese hier rechts gezeigte Marmorstatue ins 2. Jh. v. Chr., Francesco Paolo Arata118 schlägt vor, sie sei 61 v. Chr. datierbar, und Fulvio Canciani vertritt im Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae die Meinung, sie sei ganz am Ende des 1. Jhs. v. Chr. entstanden119. Schuld an dieser ungenauen Datierung ist, ganz analog zu der links gezeigten Tonstatue der Athena aus Lavinium, die Tatsache, dass auch diese Marmorstatue in Rom nicht aus einem stratifizierten Ausgrabungsbefund stammt.
8. Dia - WIEDERHOLUNG
Oberteil einer Tonstatue aus Lavinio Pratica di Mare
Braut mit sex crines und Goldkette aus Großgriechenland
Ich zeige Ihnen hier noch einmal die fragmentarische Tonstatue eines jungen Mädchens aus Lavinium. Mario Torelli hat erkannt, dass dieses noch sehr kindlich wirkende, ja pausbäckige Mädchen eine Braut sein muss, da seine Frisur als die berühmten sex crines identifiziert werden kann, welche unter Verwendung einer Lanze, der hasta caelibaris entstand. Mit dieser Lanze wurden die Scheitel gezogen: ein Mittelscheitel und, senkrecht zum Mittelscheitel auf beiden Seiten des Kopfes je 3 kleinere Scheitel. Das auf diese Weise an den beiden Kopfseiten abgeteilte Haar wurde zum Gesicht hin in je 3 Korkenzieherlocken aufgedreht. Diese 2 x 3 Korkenzieherlocken gaben der Frisur ihren Namen `6 Locken´. Als hasta caelibaris eignete sich nur eine Lanze, mit der bereits ein Mann getötet worden war. Die aktuelle Forschung vermutet, dass diese ausgesprochen martialisch wirkenden Sitte zur Anwendung kam, weil man sich dank dieses Rituals die Übertragung magischer Kräfte und den Schutz der Braut vor bösen Einflüssen versprach - die wirkliche Bedeutung dieses Rituals ist allerdings unbekannt.
Das Mädchen trägt eine Tunica und nach dem in den vergangenen Stunden Gehörten dürfen Sie getrost annehmen, dass es sich um eine Tunica recta aus Leinen handelt, die das Mädchen mit Sicherheit selbst auf einem stehenden Webstuhl angefertigt hatte. Gemessen an diesem schlichten Gewand besteht ihr Schmuck gleich aus mehreren Halsketten. Diese sind, wie Mauro Cristofani in seinem Buch L'oro degli Etruschi (`Das Gold der Etrusker´; 1983) feststellen konnte, aus Gold gefertigt zu denken. Aus diesem Buch stammt die rechts gezeigte Aufnahme. Die den Hals enger umschließende Kette war offenbar aus Großgriechenland eingeführt - also aus einer der Städte in Süditalien, die von griechischen Mutterstädten als Kolonien gegründet worden waren - und ist in das 4. Jh. v. Chr. datierbar. Dieser Schmuck ist in sehr ähnlicher Form in ausgegrabenen Exemplaren nachweisbar.
9. Dia - WIEDERHOLUNG
2 ähnliche Tonstatuen, die junge Frauen mit reichem Goldschmuck darstellen
aus Lavinium/ Lavinio, Pratica di Mare, Museo Archeologico Lavinium
Auch im Fall dieser beiden Tonstatuen von sehr jungen Frauen aus Lavinium hatte ich Sie auf dasselbe Buch von Mauro Cristofani hingewiesen, demzufolge die zahlreichen hier dargestellten goldenen Schmuckstücke allesamt auch archäologisch nachweisbar sind, wobei ich Sie vor allem auf das figürlich geschmückte Pektorale (ein großes, auf der Brust getragenes Schmuckstück) hingewiesen habe.
10. Dia - WIEDERHOLUNG
- Gesamtansicht UND DETAIL
Grabkomplex aus der Tomba Bernardini, einem Fürstengrab in Praeneste (Palestrina),
Goldplatte mit 131 Tieren (Granulationstechnik), 680-660 v. Chr.
M. CRISTOFANI und M. MARTELLI 1983, S. 82-83, Kat. 13, Rom, Museo di Villa Giulia
Und damit Sie mir das glauben, habe ich Ihnen den meines Erachtens schönsten etruskischen Goldschmuck gezeigt, der, wie Ösen auf seiner Rückseite und Textilreste bei seiner Auffindung anzeigten, vom Eigentümer auf der Brust getragen worden war. Der Vergleich funktioniert also, obwohl die soeben gezeigten Tonstatuen der jungen Frauen nicht in Etrurien, sondern in Latium gefunden worden sind. Diejenigen von Ihnen, die im Sommersemester 2008 den Vortrag von Herrn Prof. Prayon über etruskische Altäre gehört haben, werden sich erinnern, dass in der hier gezeigten Zeit Funde aus Latium und Etrurien sehr häufig nicht voneinander zu unterscheiden sind.
11. Dia - WIEDERHOLUNG
Lavinium: Tonstatuen von 2 Bräuten
Das Beispiel der beiden hier gezeigten Votivstatuen aus Lavinium führt uns eine weitere Besonderheit dieser Weihungen vor Augen: die beiden hier sichtbaren Tonstatuen sind sich ja so ähnlich, dass man sie, wenn man nur die Oberteile der Statuen betrachtet, für identisch halten könnte. Sie wurden offenbar aus denselben Modeln (Matrizen) hergestellt und sind deshalb mit Sicherheit nicht als Portrait eines bestimmten Mädchens zu verstehen, eine Tatsache, die um so irritierender ist, als es sich bei dem von dem Mädchen getragenen Goldschmuck gleichsam um Portraits derartiger Ketten handelt (!).
Soweit unser Ausflug in das der Stadt Rom benachbarte Lavinium, der dazu dienen sollte, Sie mit der auch von den jungen Römerinnen getragenen Brautfrisur sex crines bekannt zu machen, Ihnen zu zeigen, dass die Römerinnen tatsächlich in sehr jungen Jahren verheiratet worden sind, und um Sie obendrein mit dem enormen Aufwand vertraut zu machen, den die Römer getrieben haben, um ihre jungen Ehefrauen standesgemäß auszustatten. Auch die sagenhafte Lucretia müssen wir uns vermutlich so jung vorstellen wie die hier gezeigten Mädchen.
12. Dia
Portraitkopf aus Bronze, 4.-3. Jh. v. Chr., galt früher (irrtümlich) als Portrait des L. Iunius Brutus
Rom, Kapitolinische Museen, Konservatorenpalast
Musei Capitolini. Guida 2006, S. 84
- WIEDERHOLUNG - Kopf des Ehemannes vom Ehepaarsarkophag aus Cerveteri in Rom, Villa Giulia
- WIEDERHOLUNG - Kopf des Arringatore
Zum Abschluss meiner Überlegungen zur Lucretiageschichte des Livius möchte ich Sie nach Rom entführen, wo wir nun bis zum Ende der Vorlesung verweilen werden. Dazu ist dieses bedeutende Bronzeportrait eines Römers anzufügen, das vielleicht Teil einer Portraitstatue gewesen ist. Es befindet sich im Konservatorenpalast in Rom, und stammt leider ebensowenig aus einer modernen wissenschaftlichen Ausgrabung. Bitte beachten Sie, dass dieser Mann bärtig ist und dass seine in farbigen Materialien eingelegten Augen noch erhalten sind. Der Stil dieser Bronze und die Bärtigkeit gegen einen Hinweis auf die Entstehungszeit dieses Portraits, das im 4. bis 3. Jh. v. Chr. entstanden sein wird.
Da dieser Kopf schon lange vor Einsetzen der wissenschaftlichen Archäologie entdeckt wurde, erhielt er einen jener damals üblichen Phantasienamen, er galt nämlich lange Zeit als Bildnis des L. (Iunius) Brutus, jenes Mannes, der die Tarquinier verjagd haben soll, und angeblich im Jahre 509 v. Chr. zum 1. Consul der römischen Republik gewählt worden war. Weil aus stilistischen Gründen eine Datierung dieses Kopfes ins 6. Jh. v. Chr. ausgeschlossen werden kann, und es keinerlei Anhaltspunkte für die Identifizierung des Dargestellten gibt, bezeichnen wir dieses Bildnis heute als den sog. Brutus.120 Zu der Barttracht der Römer bzw. zu der Mode, sich glatt zu rasieren, sollten Sie sich Folgendes merken: in der Archaik trugen die Herren langes Haupthaar und Vollbart. Wie diese frisiert werden konnten, sehen Sie noch einmal in der Mitte, den Mann des Ehepaarsarkophages aus Cerveteri in der Villa Giulia in Rom. Der sog. Brutus trägt das kurze Haupthaar und die Vollbartform der Römer der mittleren Republik. Mit Alexander dem Großen kommt dann in Griechenland die Mode auf, sich das Gesicht glatt zu rasieren. Der sog. Arringatore - sein Kopf erscheint noch einmal rechts im Bild - eine Statue, die wir auch aus anderen Gründen ins 1. Jh. v. Chr. (oder ins 2. Jh. v. Chr. ?121) datieren können, zeigt also, dass die Römer die zeitgenössische Mode der Griechen (nach Alexander), sich glatt zu rasieren, übernommen hatten. Diese Mode blieb bei den Römern bestehen bis zu Kaiser Hadrian, der als erster Römer wieder Vollbart getragen hat.
13. Dia - Photo - WIEDERHOLUNG
S. STEINGRÄBER 1985
S. 327, Nr. 81, Abb. 105, Tomba dei Leopardi (Tarquinia).
Wie wir bereits in einer früheren Vorlesungssitzung gehört hatten, beschäftigt sich Francesco Roncalli in seinem Aufsatz über die etruskische Malerei auch mit deren Verhältnis zu den farbig gefassten Architekturterrakotten der Etrusker, wobei er davon ausgeht, dass die zeitgenössischen Künstler in beiden Gattungen (Wandmalerei und bemalte Terrakotten) gearbeitet haben122. Diese Terrakotten haben ihre Tempel dekoriert, mit denen wir uns jetzt beschäftigen wollen. Und zwar deshalb, weil der Hauptstaatstempel der Römer, dem sie dem Iuppiter Optimus Maximus auf dem Capitolium errichten sollten, typologisch dem etruskischen Tempel entsprochen hat.
14. Dia
Touring Club Italiano 1980, S. 31-32,
Straßenatlaskarte: Rom und die Ruine von Veji ("VEIO")
Die ehemals sehr reiche, von einem König regierte Etruskerstadt Veji (Italienisch: Veio) gehört heute zur Comune di Roma, und wurde von den Römern als 1. der Etruskerstädte erobert, worauf ich noch zurückkommen werde. Wie bereits mehrfach gesagt, war Veji der unmittelbare Nachbar Roms, da der Tiber die Grenze zwischen den Gebieten darstellte, welche von diesen beiden Städten kontrolliert wurden. Die Städte Rom und Veji selbst waren nach antiken Schriftquellen unterschiedlich weit, aber offenbar nur wenige Kilometer voneinander entfernt, weshalb man die Ruinenstätte, die heute der Etruskerstadt Veji zugeschrieben wird, identifizieren konnte.
15. Dia
B. ANDREAE et al. 2004, S. 21, Abb. 8, Rekonstruktionsmodell: Veji, Tempel des Portonaccio-Heiligtum, Dat.: Ende 6. Jh. v. Chr.
In Veji hat man das Portonaccio-Heiligtum ausgegraben, dessen Tempel, der in das Ende des 6. Jhs. datierbar ist, in der hier gezeigten Form rekonstruiert worden ist123. Ich zeige Ihnen diesen Tempel, weil, auf Grund der leider nur spärlich erhaltenen Reste des Iuppiter Optimus Maximus Tempels in Rom, die Forschung gezwungen ist, sich diesen Haupttempel der Römer in Rom anhand eines Vergleichs mit dem hier sichtbaren Tempel im benachbarten Veji vorzustellen.
Bei diesem etruskischen Tempel in Veji handelt es sich um eine Holzkonstruktion mit einem terrakottengeschmückten Dach. Diese Innovation, Dächer mit Terrakotten zum einen vor der eindringenden Nässe zu schützen, andererseits zu schmücken, kam, wie erwähnt, in Mittelitalien im 7. Jh. v. Chr. auf und wird von den antiken Schriftquellen, und inzwischen auch von der modernen Forschung, mit dem Wirken des Bakchiaden Demaratos aus Korinth erklärt, welcher in eben dieser Zeit aus politischen Gründen seine Heimatstadt Korinth in Griechenland hatte verlassen müssen. Demaratus hatte es fertig gebracht, den Bürgerkrieg in seiner Heimatstadt zu überleben und mitsamt seiner beträchtlichen Reichtümer und begleitet von Künstlern und Handwerkern aller Art, die Etruskerstadt Tarquinia zu erreichen, wobei der Handel mit dieser Stadt ihn bereits zuvor reich gemacht hatte. In Tarquinia heiratete Demaratus eine ortsansässige Etruskerin, nahm den Namen Tarquinius an, und sein Sohn Lucumo sollte in Rom unter dem Namen L. Tarquinius Priscus der 1. Etruskerkönig werden. Von der hohen Bedeutung von dessen etruskischer Frau Tanaquil für die Kulturgeschichte Roms hatte ich Ihnen ja bereits ebenfalls berichtet. In der Literaturliste finden Sie, wie gesagt, den Aufsatz von Fausto Zevi zu diesem Thema, sowie einen Aufsatz von T. P. Wiseman über die Beschreibung der Sagen um König Servius Tullius in der Fassung des Ovid, in dem Sie dies alles nachlesen können.
Im Zusammenhang der Wandmalerei der Tomba dei Leopardi hatten wir auch schon gehört, dass die hier gezeigte etruskische Tempelform den gleichzeitigen etruskischen Wohnbauten der Aristokratie entsprach, und dass auch die in den Felsen eingetieften Kammergräber diese Architekturform nachempfunden haben. Wenn Sie diesen Tempel mit gleichzeitigen griechischen Steintempeln vergleichen, werden Sie als erstes feststellen, dass das gewaltige Dach von nur vier Säulen in der Front des Tempels getragen wird, die außerdem sehr viel weiter von einander entfernt sind, weshalb ihr Interkolumnium größer ist bei einem Steintempel. Der zweite große Unterschied besteht darin, dass der Dreiecksgiebel über der hier sichtbaren Tempelfront auf der Rückseite nicht geschlossen ist. Bei griechischen Tempeln ist der Giebel hinten geschlossen und vor dieser Rückwand sind anfangs in Relief, später in Form rundplastischer Statuen Szenen aus der griechischen Mythologie dargestellt, welche mit der Gottheit in Zusammenhang stehen, die in diesem Tempel verehrt wird. Beim hier gezeigten etruskischen Tempel ist nur die Stirnseite des Firstbalkens dekoriert, und zwar ebenfalls mit mythologischen Szenen. Der Stirnbalken heißt, wie gesagt, Columen, und die an seiner Stirnseite befestigte Terrakottaplatte heißt Columen Antepagment.
Außer dem Columen, das Sie sich also mit einer reliefierten und farbig gefassten Ton-Antepagment vorstellen müssen, bestehen auch die hier sichtbaren Akrotere auf dem Dach aus farbig gefassten Terrakottastatuen, und als weitere Besonderheit des etruskischen Tempels - hier nicht sichtbar - standen weitere Terrakottastatuen auf dem Firstbalken.
16. Dia
Kopf von farbig gefasster Terrakottastatue (`Hermes´), Akroter des Portonaccio-Heiligtums in Veji
M. TORELLI 2000, S. 34, Ende 6. Jh. v. Chr.
In der Nähe des eben gezeigten Tempels im Portonaccio-Heiligtum in Veji hat man nun derartige farbig gefasste Tonstatuen gefunden, die auf dem Firstbalken dieses Tempels gestanden haben. Hier sehen wir zunächst das Fragment der Statue einen jungen Mannes, der auf Grund seines Hutes als Gott Hermes oder Merkur, wie die Römer ihn nannten, gedeutet wird. Es handelt sich um den Gott des Handels und der Diebe. Sein archaisches Lächeln und die archaische Frisur erlauben eine Datierung ins späte 6. Jh. v. Chr. In unserem Zusammenhang ist diese Tonstatue von Bedeutung, weil sie nicht nur begründet, was Francesco Roncalli behauptet, nämlich dass die etruskische Wandmalerei in Kammergräbern und die gleichzeitige farbig gefasste Monumentalplastik große Verwandtschaften untereinander aufweisen, sondern überdies, weil diese Plastik aus Veji stammt. Hier ist uns jener Künstler namentlich bekannt, der im Auftrag von König Tarquinius Priscus das Kultbild des Iuppiter Optimus Maximus für seinen Tempel in Rom auf dem Kapitol geschaffen haben soll, ebenfalls als Tonplastik. Dieser Tonplastiker (Choroplast) hieß Vulca124, und die Forschung nahm deshalb früher an, dass er auch den hier gezeigten Hermeskopf schuf (was aber aus chronologischen Überlegungen unwahrscheinlich klingt). Da leider keine Reste von der Terrakottadekoration des Tempels für Iuppiter Optimus Maximus auf dem Capitolium in Rom erhalten geblieben sind, müssen wir uns daher mit diesem Kopf aus Veji begnügen, den Sie sich in Rom, in der Villa Giulia anschauen können.
17. Dia
Farbig gefasste Terrakottastatue des Apollon, Akroter desselben Tempels
M. TORELLI 2000, S. 35, Ende 6. Jh. v. Chr.
Vom selben Tempel in Veji stammt diese früher gleichfalls dem Vulca zugeschriebene Statue des Apollon, die sich ebenfalls in Rom in der Villa Giulia befindet. Apollon, den die Römer Apollo nannten, ist unter anderem ein Heilgott, der mit Pfeil und Bogen dargestellt werden kann - was hier offenbar der Fall gewesen ist. Diese Statue und jene, zu welcher der eben gezeigte Kopf des Hermes/ Merkur gehört hat, sind lebensgroß, beide standen auf dem Dachfirst des eben gezeigten Tempels in Veji. Beide Statuen sind gleichzeitig entstanden. Diese Tonplastiken sind großartige Kunstwerke und wenn man vor ihnen steht ungemein eindrucksvoll. Wie erwähnt, haben sich die Römer ihrer tönernen Kultbilder in ihren Tempeln - die wir uns stilistisch und qualitativ möglicherweise genauso vorstellen müssen - geschämt. Eigentlich schade.
18. Dia
R. FUNICIELLO 1995 I, 318, Abb. 11, Rom, aktuelle Höhenschichtkarte innerhalb der Aurelianischen Stadtmauer
Diese Höhenschichtkarte von Renato Funiciello zeigt Ihnen das aktuelle Rom innerhalb der Aurelianischen Stadtmauer. Wir sehen den Tiber, den Kapitolshügel ("Campidoglio") und den Hügel Esquilin ("Esquilino") und weitere im antiken Stadtgebiet befindliche Hügel. Die zuerst genannten wollen wir heute betrachten, weil sich das Siedlungsgebiet, vom Tiber ausgehend, in die Richtung zum Esquilin hin ausgebreitet hat.
19. Dia
LTUR III (1995) Abb. 190, Karte der antiken Stadt Rom: B. BRIZZI (Computer Graphik: Studio Verzilli), Servianische Stadtmauer und Aurelianische Stadtmauer.
In diese Karte, welche die Stadt Rom in der Kaiserzeit zeigt, ist die antike monumentale Bebauung eingetragen. Wir sehen wieder den Tiber, mit dem Tiberknie und der Insel im Tiber, wo sich eine Furt befand, den Kapitolshügel, sowie die sog. Servianische Stadtmauer, die im 6. Jh. errichtet wurde. Außerdem die Porta Esquilina in der Servianischen Stadtmauer. Die Größe der Stadt Rom in republikanischer Zeit ist hier gut erkennbar, weil in diese Karte auch die spätantike Aurelianische Stadtmauer eingetragen ist, deren erste Ausbauphase in den Jahren 271-275 n. Chr. entstehen sollte.
20. Dia
Romkarte: F. SCAGNETTI, G. GRANDE 1979,
Ausschnitt: "VRBS ANTIQVISSIMA", mit der Servianischen Stadtmauer
Hier also noch einmal eine Karte der antiken Stadt Rom, in welche nur die Servianische Stadtmauer der Republik eingetragen ist. Von kleinen Siedlungskernen auf dem Kapitolshügel, dem Palatin, der Velia und dem Quirinal ausgehend, waren die Römer bereits im 9. Jh. v. Chr. dazu übergegangen, ihre Toten nicht mehr im Tal des Forum Romanum, zwischen Kapitol, Palatin und Quirinal zu bestatten, sondern hatten die Belegung einer Nekropole auf dem Esquilin begonnen, der damals noch außerhalb des Siedlungsgebietes lag. Die Römer sollten im angeblich 449 v. Chr.125 veröffentlichten Zwölftafelgesetz verfügen - in dem bereits geltendes Recht festgeschrieben worden ist - dass ihre Toten nur außerhalb der Stadtmauer bestattet werden dürften. Weshalb nach Errichtung der Servianischen Stadtmauer, die mitten durch die Nekropole auf dem Esquilin verlief, tatsächlich nur noch außerhalb der Stadtmauer bestattet worden ist. Diese Nekropole auf dem Esquilin war, da sie ca. 900 Jahre in Gebrauch gewesen ist, die größte im gesamten Imperium Romanum - bis zum Jahre 38 v. Chr., als der bereits erwähnte Freund und Berater des Octavian und späteren Kaisers Augustus, Gaius Maecenas, dieses Gelände mit einer meterdicken Erdschicht zugeschüttet, und an seiner Stelle seine berühmten Horti (`Gärten´), eine Luxusvilla, angelegt hat.
21. Dia
G. PINZA 1905,Taf. 15,
Karte: Die Nekropole auf dem Esquilin in Rom
Diese Karte von Giovanni Pinza aus dem Jahre 1905 zeigt Ihnen nun die Nekropole auf dem Esquilin im Detail. Man erkennt, dass zahlreiche (ältere) Bestattungen innerhalb der Servianischen Stadtmauer ausgegraben worden sind, die außerhalb der Stadtmauer eingetragenen Bestattungen sind, wie erwähnt, später entstanden. Die Ausgrabung dieser Nekropole auf dem Esquilin hatte in den 1870er Jahren begonnen. Pinza ist es zu verdanken, dass der wissenschaftliche Ertrag dieser Ausgrabung, welche auf Grund des enormen Zeitdrucks nur unzureichend dokumentiert worden war, nachträglich noch wesentlich verbessert worden ist. Besonders hinweisen möchte ich Sie auf das Grab Nr. 125 ("Tomba CXXV"), wo 1878 spektakuläre Funde zu Tage gekommen waren, was aber erst in den 1970er Jahren erkannt worden ist. Dieses Grab wurde an der Südwestecke des heutigen Platzes Piazza Vittorio Emanuele II entdeckt. Dazu später mehr.
Nun also zurück zu der Frage, welche Bevölkerungsgruppen in dieser frühen Zeit in Rom gelebt haben.
Nach dem heutigen Stand unserer Wissenschaft und der unserer Nachbardisziplinen wäre es theoretisch überhaupt kein Problem, anhand sorgfältiger Untersuchungen der zahlreichen im Stadtgebiet von Rom angetroffenen Bestattungen festzustellen, ob Rom in dieser frühen Zeit tatsächlich von ethnisch verschiedenen Gruppen besiedelt war, um dann, falls dies tatsächlich der Fall gewesen sein sollte, in einem zweiten Schritt zu klären, ob außer Latinern, die man ja auch außerhalb Roms anhand ihrer spezifischen Artefakte kennt, eine von den Latinern abweichende Gruppe womöglich wirklich als Sabiner definiert werden kann. Derartige Nachweise fehlen bislang, weil z. B. die größte Nekropole der römischen Welt, die hier gezeigte auf dem Esquilin in Rom, zu einer Zeit entdeckt und ohne ausreichende Dokumentation überbaut worden ist, als man heute mögliche naturwissenschaftliche (und andere Methoden und) Verfahren noch gar nicht kannte.
Ich meine z. B. die naturwissenschaftliche Anthropologie, die es erlaubt, Skelette zu untersuchen und durch Vergleich mit bekannten und bereits eindeutig definierten Befunden Informationen zu erzeugen, die uns Archäologen eine diesbezügliche Entscheidung erleichtern würden. Derartige Daten würde man bei einer heutzutage durchgeführten Grabung gleich von Anfang an interdisziplinär mit jenen Kollegen diskutieren, die alle anderen Aspekte dieser Bestattung untersuchen: Geologie des Untergrundes, Topographie der entsprechenden Gegend, Bestattungsform, Orientierung der Bestattung nach den Himmelsrichtungen, Beigaben, Analyse organischer Funde, usw. Genau so gehen gegenwärtig die italienischen Kollegen bei Nachgrabungen innerhalb der Nekropole auf dem Esquilin126 und natürlich auch anderswo vor.
Wie in einem anderen Zusammenhang erwähnt, sagen bei Körperbestattungen ja bereits die Beigaben etwas über das Geschlecht eines Bestatteten aus (Spinnwirtel für Frauen, Waffen für Männer), und in vielen Fällen auch über seine kulturelle Herkunft. Die Nekropole vom Esquilin enthielt all dies zum Überfluß und in einer nirgendwo sonst angetroffenen Vielfalt, weil sie mehr als 900 Jahre lang in Benutzung war, und vom aristokratischen Kammergrab bis zur namenlosen Armenbestattung alles enthielt, was jemals in Rom diesbezüglich möglich gewesen ist - aber die Funde sind leider nicht ausreichend dokumentiert worden, weil der Druck, am Ende des 19. Jahrhunderts schnellstmöglich Neubauviertel zu errichten, wieder einmal stärker war als die Interessen der Denkmalpflege und damit unserer Wissenschaft. Aber die heutigen Römer haben, findig wie sie sind, aus der dichten aktuellen Besiedlung ihrer Stadt auch schon gleich einen Lösungsansatz für das eben beschriebene Problem entwickelt: Rom ist heute nämlich ein Mekka der archäologischen Forschung, mit einer Massierung von hochqualifizierten Wissenschaftlern und Forschungsinstitutionen ohne gleichen. Dies ermöglicht es den dort tätigen Bodendenkmalpflegebehörden dem geschilderten Problem mit schlichter Manpower und einschlägig verfeinerten Forschungsmethoden wirkungsvoll zu begegnen.
Soweit also die theoretisch vorhandenen Möglichkeiten unseres Faches und unserer Nachbardisziplinen, etwas über diese frühe Epoche der Geschichte Roms gleichsam nachträglich in Erfahrung zu bringen, für einen Zeitraum also, für den wir keinerlei zeitnahe Geschichtsquellen der Römer selbst (oder der Griechen) besitzen. Der zweite Ansatz, etwas über das Rom der Frühzeit zu erfahren, ist, wie erwähnt, die Feststellung, welche Sprache an diesem Ort von den Einheimischen gesprochen worden ist. Als drittes ist es ja auch in der aktuellen Diskussion unserer eigenen Zeit häufig die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion, welche man heranzieht, um eine Gruppe manchmal auch ethnisch oder politisch zu definieren. Livius127 Horaz (epist. 2.1.139-176) und andere Autoren128 schildern die Römer der frühen Republik aus durchsichtigen politischen Gründen - der Propaganda des Kaisers Augustus - als einfache latinische Bauern und Hirten129. Dass dies nicht der Wahrheit entsprach, wissen wir heute besser als sie130 auf Grund von Bodenfunden aus dieser Epoche, die wir gleich sehen werden.
22. Dia
T. P. WISEMAN 2008, S. 2, Abb. 1,
Graffito auf dem Fragment eines sog. italisch-geometrischen Tellers aus der Nekropole auf dem Esquilin in Rom, 1. H. 7. Jh. v. Chr., `vielleicht die älteste Inschrift aus Rom´.
Hoch zu loben ist in diesem Zusammenhang ein Teilgebiet unserer Wissenschaft, die Keramikforschung, ohne die man häufig unmöglich in der Lage wäre, ausgegrabene Befunde und Funde zu datieren. Ich zeige Ihnen hier die Umzeichnung nach einer Keramikscherbe, die T. P. Wiseman131 in seinem Aufsatz "Unwritten Rome" (`das ungeschriebene Rom´) im gleichnamigen Buch publiziert hat, das Sie im Apparat zur Vorlesung finden. Diese Scherbe gehörte zu einem sog. italisch-geometrischen132 Teller, der in der Nekropole auf dem Esquilin ausgegraben worden ist. Der Teller ist in die 1. Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. datierbar und auf ihm erkennen Sie drei Buchstaben in etruskischer Schrift ("snu[...]"). Nach dem Urteil von T. P. Wiseman handelt es sich `vielleicht um die älteste Inschrift aus Rom´.
Aus diesem Einzelfund können wir natürlich nicht etwa ableiten, dass Rom zu dieser Zeit eine reine Etruskerstadt war. Er bedeutet vielmehr, dass es bereits in der 1. Hälfte des 7. Jhs. v. Chr. in Rom nicht nur die von Horaz und Livius beschworenen `einfachen latinischen Bauern und Hirten´ gab, die vermutlich zum großen Teil Analphabeten waren, sondern offenbar auch Etrusker, die lesen und schreiben konnten !
23. Dia
A. Mura Sommella 2000
S. 12, 16-18, Abb. 6, protokorinthische Keramik aus der Nekropole auf dem Esquilin in Rom
Nun also zu dem spektakulären Fund in der Nekropole auf dem Esquilin, den ich Ihnen bereits angekündigt habe. Wiederentdeckt hat ihn in den 1970er Jahren Anna Mura Sommella, die aber, wie alle ausgrabenden Archäologen dieser Welt größte Probleme hat, die von ihr gemachten Entdeckungen zu publizieren, zumal sie inzwischen obendrein auch noch Direktor eines der Kapitolinischen Museen, des Antiquarium Comunale, geworden war. Die hier gezeigte protokorinthische Keramik hat sie in dem Aufsatz des Jahres 2000 publiziert, den ich Ihnen in der Literaturliste angegeben habe. Hier sehen wir protokorinthische Keramikscherben, die in den 1870er Jahren in verschiedenen Gräbern der Nekropole auf dem Esquilin entdeckt worden sind - bei denen es sich in der Antike, als sie Verwendung gefunden hatten, also um sehr teure Importware gehandelt haben muss. Bei ihrer Auffindung im 19. Jh. wurden diese Scherben nicht etwa zusammen mit den Beigaben ihres jeweiligen Grabes aufbewahrt, sondern alle Beigaben wurden nach Gattungen getrennt, weshalb auch alle protokorinthischen Scherben von der Nekropole des Esquilins zusammen aufbewahrt wurden. Unglücklicherweise war aber irgendwann vergessen worden, wo sich die entsprechende Fundkiste befand.
Daher konnte der fälschliche Eindruck entstehen, dass es im fraglichen Zeitraum in der Nekropole des Esquilins nur sehr bescheidene Gräber gegeben hatte. Dies wurde auch gleich mit dem bescheidenen Charakter der Römer erklärt - so wie Livius und Horaz sie geschildert haben - im Gegensatz zu den `verweichlichten´ Etruskern133 hätten die Römer eben ihr Geld in kriegerische Aktivitäten gesteckt. Dass dieses `archäologische Märchen´ in die Welt gesetzt werden konnte, ist somit einerseits eine Spätfolge der augusteischen Propaganda (die uns u. a. durch Livius und Horaz bekannt ist), und andererseits eine Folge der Tatsache, dass die Fundkiste mit den hier gezeigten Keramikscherben erst so spät wieder auftauchte (!). Wir sollten uns natürlich fragen, warum diese Trinkgefäße, um die es sich hier hauptsächlich handelt, so systematisch zerscherbt worden sind.
24. Dia
A. Mura Sommella 2000
S. 12, 16-18, Abb. 7-9, protokorinthische Keramik aus der Nekropole auf dem Esquilin in Rom
- aus Fragmenten zusammengesetzt
Hier sehen Sie noch einmal einige der eben gezeigten protokorinthischen Scherben, aus denen man die hier gezeigten 3 Trinkgefäße für Wein (Skyphoi) zusammensetzen konnte. Auch Sie selbst können theoretisch bereits während des Studiums die Aufgabe erhalten, aus Keramikscherben, die aus einer Ausgrabung stammen, Gefäße zusammenzusetzen. Ob das im hier gezeigten Falle sinnvoll war, wage ich zu bezweifeln, da diese Scherben allesamt aus Gräbern stammen. Im Zusammenhang des Kammergrabes der Tomba dei Leopardi in Tarquinia hatte ich Ihnen ja bereits etwas vom Totenkult erzählt. Hierbei handelte es sich um Gelage an dem jeweiligen Grab, an dem die Lebenden einer gens mit ihren in diesem Grab bestatteten Vorfahren `zusammentrafen´, und ich halte es für möglich, dass die hier gezeigten Trinkgefäße bei einem derartigen Gelage benutzt worden waren. Üblicherweise wurden solche Gefäße am Ende der Feier zerbrochen und am Grab der mit diesen Gelagen geehrten Toten abgelegt.
25. Dia
A. Mura Sommella 2000
S. 13, 16, Abb. 10, 11, protokorinthische Olpe mit griechischer Inschrift des Eigentümers, eines Händlers aus Korinth, Rom, Nekropole auf dem Esquilin, Tomba CXXV,
`die älteste griechische Inschrift aus Rom´
Als krönenden Abschluß zeige ich Ihnen den spektakulärsten dieser protokorinthischen Keramikfunde aus der Nekropole vom Esquilin. Es handelt sich um eine protokorinthische Olpe (eine Weinkanne), die eine griechisch geschriebene Besitzerinschrift trägt. Darin bezeichnet sich dieser Mann als Händler aus Korinth. Es handelt sich um die älteste griechische Inschrift, die bislang in Rom gefunden worden ist, Kleiklos, `famed for fame´134. Sie ist am Ende des 7. Jhs. v. Chr. entstanden, weil die Olpe, auf der sie sich befindet, in diese Zeit datierbar ist.
Diese Inschrift beweist, dass sich bereits in dieser frühen Zeit auch Korinther in Rom aufgehalten oder sogar dort gelebt haben, weshalb die zunächst sagenhaft anmutende Geschichte von dem Korinther Demaratos, dessen Sohn Tarquinius Priscus König von Rom werden sollte, auch auf Grund dieses Fundes weitere Glaubwürdigkeit erfährt. Demnach wohnten also bereits im 7. Jh. v. Chr. die von Livius und Horaz beschriebenen latinischen Bauern und Hirten, aber auch Etrusker und Korinther in Rom. Diese lange Vorgeschichte habe ich gebraucht, um Sie auf die Besonderheit des Tempels für den Iuppiter Optimus Maximus auf dem Kapitol in Rom vorzubereiten, mit dessen Bau eben dieser korinthisch-etruskische König Tarquinius Priscus begonnen hat. Diesen Tempel werden wir uns in der nächsten Stunde ansehen.
[Bis hierhin in der 4. Vorlesungssitzung gelesen].
107 u. a. (in Bezug auf das Forum Boarium) wegen der Geschichten des arkadischen Heros Euandros/ Evander, der als 1. Siedler auf dem späteren Areal Roms galt (seine Mutter wurde mit Carmenta identifiziert; KlPauly 2 [München 1979] 394-395 s. v. Euandros [H. v. GEISAU]) und des gleichfalls griechischen Herakles, sowie der Tatsache, dass an der Ara Maxima nach griechischem Ritus geopfert wurde; vgl. M. BEARD, J. NORTH und S. PRICE 1998 I, 174; vgl. S. 444, Index s. v. `Greek rite´ (dieser galt `griechischen´ Göttern und Heroen).
108 vgl. hierzu, T. P. WISEMAN 2008, 232-233, in der Vorlesung bin ich nicht darauf zurückgekommen.
109 Enea nel Lazio 1981, 187.
110 KlPauly 5 (München 1979) 977-983 s. v. Troia (K. ZIEGLER); A. M. WITTKE et al. 2007, 306, Index, s. v. Troia; vgl. T. P. Wiseman 2008, 311: "The trouble with archaeological discoveries is that they encourage the Schliemann fallacy; find the site of Troy, and you've proved the Iliad is true".
111 s. vorige Anm.
112 Problem: Athena ist die große Feindin der Troer, aber die Stadtgöttin des historischen Ilion (worauf K. ZIEGLER, in: KlPauly 5 [München 1979] 981 s. v. Troia hinweist). Aeneas soll ja aus Troia das Palladion mit nach Rom genommen haben (!), eben weil es das Kultbild der Stadtgöttin war. Andererseits betrachteten die Römer auch die Magna Mater als die Stadtgöttin Troias, s. u. zur 10. Vorlesungssitzung.
113 F. COARELLI, in: Enea nel Lazio 1981, 190-191, Kat. Nr. D 61, "Statua di Minerva".
114 E. LA ROCCA 2010, 99.
115 E. LA ROCCA 1990, 426.
116 A. STEWART 1990 I, 324, 375 s. v. Pheidias of Athens, Athena Parthenos, Abb. 361-371.
117 E. LA ROCCA 1990, 426.
118 F. P. ARATA 1999.
119 LIMC I (1981) 1085 Nr. 143 s. v. Athena/ Minerva (G. Canciani).
120 nicht berücksichtigt habe ich M. TORELLI, M. MENICHETTI, G. L. GRASSIGLI 2008, 72: der Caesarmörder Brutus hatte 53 und 49 v. Chr. Münzen mit dem Bild des Lucius Iunius Brutus geprägt (!).
121 s. u. zur 10. Vorlesungsstunde.
122 F. RONCALLI 1985, 79-80.
123 F. PRAYON 2010, 88-89, Abb. 9; nicht berücksichtigt habe ich M. TORELLI, M. MENICHETTI, G. L. GRASSIGLI 2008, 247-249.
124 KlPauly 5 (München 1979) Sp. 1340 s. v. Vulca. Nach Plinius (nat. hist. 35,157) ließ Tarquinius Priscus den Vulca aus Veji kommen, wo er das Kultbild des IOM in seinem Tempel schuf, das beim Brand des Tempels 83 v. Chr. zerstört wurde (W. H. GROSS); R. T. RIDLEY 2005, 98; E. LA ROCCA 2010, 98.
125 T. P. WISEMAN 2008, 4.
126 s. M. BARBERA et al., BullCom 106, 2005.
127 R. M. SHELDON 2005, 6, 33.
128 s. T. P. WISEMAN 2008, 125-126 mit Anm. 88, 89, S. 165 mit Anm. 74, S. 231 mit Anm. 1, S. 233, 236, 241.
129 vgl. auch N. PURCELL 2003, 13-14.
130 so N. PURCELL 2003, 14; T. P. WISEMAN 2008, 18.
131 T. P. WISEMAN 2008, 1-2, Abb. 1.
132 vgl. hierzu F. PRAYON 2010, 102.
133 vgl. hierzu F. PRAYON 2010, 7-8.
134 T. P. WISEMAN 2008, 2 mit Anm. 6, S. 231mit Anm. 4.
Datenschutzerklärung | Impressum